Schlüsselwörter
topos; occasion; festivity; festive musical artwork; concert-festive musical artwork
Zusammenfassung
Der vorliegende Text beleuchtet das musikwissenschaftliche (und praktische) Problem des wesentlichen Unterschieds zwischen einem festlichen Musikwerk und einem konzert-festlichen Musikwerk. Ersteres besitzt einen festlichen Anlass und einen Topos (verstanden als ein bestimmter Ort und eine bestimmte Zeit, definiert durch die Bedeutung eines konkreten Festes), an dem ich leiblich anwesend bin; letzteres hat keinen festlichen Anlass und sein Topos ist der Konzertsaal, in dem ich leiblich „abwesend“ bin. Als Ausführender, Zuhörer und überhaupt Beteiligter am konzertanten Musikwerk befinde ich mich ohne spezifische leibliche Situiertheit, die jedoch ein unentbehrlicher Aspekt des Festereignisses ist und es in diesem Sinne garantiert. Dies bedeutet, dass im konzert-festlichen Werk der Leib in einer Musik situiert werden müsste, die außerhalb des Festtopos liegt – etwas, das grundsätzlich nicht erreichbar ist. Die Folge ist, dass der festliche musikalische Sinn verändert wird und nicht mehr vom konkreten Fest bestimmt ist, sondern von etwas anderem. Entsprechend muss die Weise, wie der musikalische Sinn leiblich wahrgenommen wird, neu bedacht werden.
Um das Problem hervorzuheben, untersucht der Text Dimitar Nenovs „Weihnachten“ mittels phänomenologischer Analyse und beschreibt, wie dieses Werk ursprünglich seiner Festlichkeit, seines Anlasses und seines Topos entbehrt: Es ist außerhalb der Lebenswelt des konkreten Festtopos komponiert. Als Gegenpol zu Nenovs Oratorium dient Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium – ein Beispiel für ein Werk mit eindeutigem Fest, Anlass und Topos, in dem der Musiker eindeutig leiblich anwesend ist, und zwar in festlicher und ereignishafter Weise. Hier bleibt der festliche musikalische Sinn erhalten (getragen von einer gelebten festlichen Welt mit bestimmter Zeit und bestimmtem Ort).
Die Implikation der Analyse lautet, dass für eine solche konzert-festliche Musik ein anderer „Festcharakter“, ein anderer Anlass und eine andere topische Leiblichkeit gefunden werden müssen, aus denen heraus sie als Ganzes empfunden werden kann.