The Phenomenon of Musical Identification. A View From Heidegger's Early Phenomenology
Christian Vassilev · Artikel · 2022
Zusammenfassung
Ausgangspunkt des vorliegenden Artikels sind Aussagen verschiedener herausragender Musiker des 20. Jahrhunderts, die vom Lebenserlebnis der musikalischen Identifikation zeugen, d.h. von der Erfahrung der Einheit und Einswerdung mit der Musik. Ziel des Artikels ist es, die phänomenologischen Implikationen dieses Erlebnisses auf der Grundlage von Martin Heideggers früher phänomenologischer Arbeit zu untersuchen. Der Artikel vergleicht Heideggers frühes Verständnis der phänomenalen Gegebenheit mit demjenigen von Edmund Husserl. Während Husserl die phänomenale Gegebenheit als durch das (transzendentale) Bewusstsein konstituiert betrachtet, findet Heidegger die primäre Gegebenheit in der Resonanz (Mitschwingen) zwischen dem Ich und seiner Lebenswelt. Ich argumentiere, dass in Heideggers früher Phänomenologie nicht das Subjekt, sondern vielmehr die relatio zwischen Ich und Welt dasjenige ist, was die Gegebenheit „konstituiert“. Diese Sichtweise ermöglicht es, musikalische Identifikation als Lebenserfahrung zu erforschen. Musikalische Identifikation suspendiert die Differenz zwischen Subjekt und Objekt. In der musikalischen Identifikation ist es die Beziehung zwischen „Ich“ und Musik, die für beide konstitutiv ist. Daher kann Musik in phänomenologischen Begriffen nicht adäquat erfasst werden, wenn sie einfach als Objekt betrachtet wird – eine Prämisse, die für traditionellere phänomenologische Ansätze zur Musik, wie die von Roman Ingarden und Mikel Dufrenne, kennzeichnend ist. Sowohl Ingarden als auch Dufrenne positionieren die Musik in Distanz zum Subjekt, als etwas, das in seinen objektiven Eigenschaften untersucht werden soll, ohne die konstitutive Beziehung zwischen beiden vorauszusetzen. Im Gegensatz dazu erkennen Hans-Heinrich Eggebrecht, Günther Anders und Ilja Jonchev, dass die Subjekt-Objekt-Spaltung für die Untersuchung des musikalischen Erlebens unzureichend ist. Während Eggebrecht letztlich innerhalb der Subjekt-Objekt-Dichotomie verbleibt, entwickeln Anders und Jonchev die Idee des musikalischen Mitsein, des Seins-mit-Musik, das die Subjekt-Objekt-Prämisse gänzlich aufgibt und das musikalische Lebenserlebnis als eine Seinsweise interpretiert, in der sich das Selbstverständnis und der musikalische Sinn decken.